Rezension - Delta Machine (2013)

von Daniel K. (2013)

 

Ueber vier Jahre ist’s schon wieder her. Damals, im Februar 2009, sendeten Depeche Mode mit „Wrong“ ein kräftiges Lebenszeichen, nicht ahnend, dass dieser Titel bald prophetische Kräfte freisetzen sollte: Andy Fletchers Vater starb kurz vor dem allerersten Konzert. Und Dave Gahan erkrankte zu Beginn der Tour so, dass eine Fortsetzung unsicher war, diverse Auftritte verschoben werden mussten.
Nun schreiben wir das Jahr „33 D.M.“. Depeche Mode haben uns eine „Delta Machine“ beschert, doch wie üblich seit Mitte der 90er finden einige „Fans“ Haare in der Suppe, ja teilweise ganze Skalps! Zugegeben:
Seit die drei Briten die 30 überschritten haben, verabreichen sie ihrer Hörerschaft gerne kleinere und grössere Schocks. Man erinnere sich an den überschlanken langhaarigen Bartträger in „I Feel You“, den irren Videoclip zu „Barrel Of A Gun“ oder das unerträglich sommerleichte „Dream On“. Und erst die Alben der letzten 20 Jahre!
„Schnelle Mode“? Welch treffender Bandname, den Dave Gahan im Oktober 1980 aus dem Aermel schüttelte.

 

Nach Abstechern zu den Engeln („Playing The Angel“) und ins Universum (“Sounds Of The Universe“) landet unser Lieblings-Trio wieder auf der Erde. Die auf „Delta Machine“ verarbeiteten Blues-Einflüsse „made in Mississippi“ kennen erfahrene „Depechies“ bereits von „Songs Of Faith And Devotion“, von Gahans Solowerken und von den Soul-Davers (a.k.a. „Soulsavers“). Der Delta-Blues entstand nach 1910 im Mississippi-Delta, das zwischen den Flüssen Mississippi und Yazoo (…) liegt.
Möglicherweise bedienten sich Dave, Martin und Andy bei der Titelwahl auch bei den Elektro-Futuristen CLOCK DVA, bereits 1992 mit einem „Delta Machines“ am Start. Depeche Modes „Delta Machine“ ist jedenfalls ein überaus spannendes, für die Band typisches Album geworden. Typisch, weil die grossen Erwartungen wie üblich nicht in der „gewünschten“ Form erfüllt wurden. Und natürlich weil sehr elektronisch.

 

Mein erster Eindruck: Allen Veränderungen und Einflüssen zum Trotz dominiert auch diesmal die „Maschine“: Immer wieder schimmert die simple Klarheit und Direktheit der Elektropioniere „Kraftwerk“ durch, einzelne Töne scheinen gar gekl… also geliehen zu sein. Aber anstelle kraftwerkscher Schau-Fenster-Puppen sind bei Depeche Mode hörbar echte Menschen am Werk. Auch fällt auf, dass die Drum-Sounds weder eintönig, noch dumpf oder zu modern eingesetzt werden, eher überlegt, minimal und fein. Keine Wort-Berge, keine weggemixte Klangdynamik, keine Hektik. Eine Wohltat für überfütterte oder gestresste Sinne.

 

Aber Achtung! Die Meister der Verwirrung, erfüllen erst gegen Album-Ende die schon angesprochenen Vorstellungen, die man sich halt schon irgendwie macht. Bis zu Titel Nummer 10erwarten den schrecklosen und anpassungsfähigen Hörer…

 

* „Welcome to my World“…ein zögerliches Eintreten in eine Welt brummeliger und tickender Synthis, gipfelnd im verreinnahmenden Refrain mit beatleskem „Eleanor Rigby“-Flair,
* „Angel“…das bei der ersten Pressekonferenz vorgestellte nervöse, taktwandelnde Maschinen-Monster mit himmlischer Auflösung,
* „Heaven“…die wie üblich auf falsche Fährten lockende Vorab-Single, diesmal eine bluesige Variante ihres Hits „Precious“, ein von Zeremonienmeister Dave souverän dominierter Ruhepol,
* „Secret“… ein verhalten brodelndes erstes Highlight, schön verziert mit ungewohnten Drum-Sounds und einem ekstatischen Schlussspurt,
* „My little Universe“…vier Minuten ungewohnter Minimalismus, was zunächst mal - wie „Pipeline“ 1983 - mächtig irritiert, schliesslich aber ungeahnte hypnotische Kräfte freisetzt,
* „Slow“…die entspanntere Version von „Condemnation“, umgarnt von Martins geisterhaftem Hintergrundgesang (noch aus den „Faith & Devotion“-Sessions),
* „Broken“…ein glitzernder, wohlklingender, in der Melodie nicht ganz stimmiger Popsong, der aufgrund der positiven Reaktionen trotzdem zu funktionieren scheint,
* „The Child inside“…die obligate, erneut wunderbare Martin Gore-Ballade, die diesmal mit fernöstlicher Exotik „Japans“ Klassiker „Tin Drum“ aufleben lässt,
* „Soft Touch/Raw Nerve“…eine raue, glamrockige, eingebremste Dauer-Beschallung mit dankbaren Kunstpausen.

 

Die nächsten drei Songs bilden das inoffizielle Hit-Zentrum von „Delta Machine“: Mit „Should be higher“ erhält das Wort „schweben“ eine neue Bedeutung. Es schraubt unsre Gefühlslage sowie Daves Gesang in ungewohnte Höhen. „Alone“ kann zwar eure Seelen auch nicht retten, wie Dave und Martin singend betonen, schürt aber mit einer traurigschönen Melodie und traumhaften Sounds die Hoffnung darauf. „Soothe my Soul“, zu Recht als zweite Single ausgekoppelt, schlägt gekonnt eine Brücke zwischen eiskühlen Beats und Seelenfeuer.
Das scheinbare Ende „Goodbye“ lehnt sich wie „Angel“ beim grossen Bruder „I feel you“ an. Und ein bisschen bei „Hello Goodbye“, das wie „Eleanor Rigby“ aus der besten Beatles-Phase stammt.

 

Aber eben: Genau genommen hat die „Delta“-Story noch vier weitere Kapitel. Das erste, das Gore & Gahan-Stück „Long Time Lie“, ist zwar das unauffälligste aller siebzehn. Doch sogar dieses hat bekömmliche Seiten. Die wahren Perlen auf der Bonus-Disc sind das unaufgeregte wabernde „Happens all the Time“ und Martin Gores „Always“. „Always“ zeigt sich erst sperrig, aber - oh Täuschung! - schliesslich schön wie ein überwältigendes Naturschauspiel. Dann gibt’s noch „All that’s mine“, eher simpel, doch raffiniert und knackig.

 

Dank geregelter Arbeitszeit - und ohne Nacht-Sessions - ist das neue Werk früher als geplant fertig geworden. Zum dritten Mal in Folge unter der Aufsicht von Ben Hillier, mit Hilfe des schwedischen Synthi-Spezialisten Christoffer Berg und unserem ureigenen Thurgauer Gewächs Kurt Uenala. Flood hat’s abgemischt. Ja, DER Flood, der 1993 meinte, nie mehr mit dieser „schwierigen Band“ zusammenarbeiten zu wollen. Kein Nachteil, dass er seinen Beitrag diesmal aus der Ferne leisten konnte. Wie immer nah bei seinen Schäfchen ist Haus-Designer und -Photograph Anton Corbijn. Last but not least „Meister D.M.“ Daniel Miller himself, das inoffizielle vierte Bandmitglied. Ist vielleicht er dafür verantwortlich, dass „Delta Machine“ auf den Tag genau 20 Jahre nach „Songs of Faith and Devotion“ veröffentlicht wurde?

 

Noch ein paar Worte zu Kurt Uenala, unserem „Chocolate Robot“ aus dem thurgauischen Aadorf, der alphabetische Spitzenreiter des Schweizer Ortsverzeichnisses. Ein riesiger Schritt von diesem niedlichen Dorf bei Sirnach TG --- *schwupp* --- in den Big Apple New York! Seine Zusammenarbeit mit Dave Gahan hat diesmal allersüsseste Früchte getragen, haben die beiden doch einige der besten „Delta“-Songs gemeinsam geschrieben. Ein weiteres Dave & Kurt-Projekt sei bereits eingeleitet. „Kap10 Kurt“, nicht Kapitän eines fiktiven „Traum-Schiffes“, sondern seines himmlische Spähren ansteuernden Raumschiffs.

 

Im Internet findet man zu „Delta Machine“ unzählige Meinungen. Die meisten überschwänglich und oft ausführlich, die negativen destruktiv und eher kurz. Je nach Herkunft unterscheiden sich die Reaktionen.
Italiener, Spanier, Kanadier, Japaner verteilen „Delta Machine“ durchgehend grosszügige Noten. Auch die sich äussernden Briten sind „ihrer“ Band überaus wohlgesinnt. US-Amerikaner und Franzosen sind im Schnitt kritischer. Teilweise richtig rüpelhaft geht es im deutschen Sprachraum zu und her, wo der Anteil enttäuschter Meinungen deutlich am höchsten ist. Trotzdem verkauft sich Delta Machine auch hierzulande gut: 2 Wochen an der Charts-Spitze, in Woche 6 noch immer auf Position sieben. Irgendwie ironisch, dass gerade der „abtrünnige“ und von vielen ins Bandkorsett zurückgewünschte Klangforscher Alan Wilder seit seinem Abgang nur schwerstverdauliche Musik auf uns losgelassen hat!

 

Also bitte! Depeche Mode öffnen uns ihr Innerstes, damit all die Frustrierten ihren Müll darin entsorgen können?! Dave, extrovertiertes Bühnen-Tier und introvertierter Seelenversteher, wird diese Meinungen nicht mehr zu nahe an sich lassen wollen. Denn seine eigenen grossen Leiden als inkarnierter „Personal Jesus“ sind schon lange vorbei, und das ist gut so. Wir wollen ja weder sinnestäuschende Drogen noch Helden oder Märtyrer, sondern ganz einfach Musik.

 

Und zwar sowas wie „Delta Machine“, das mit seiner schieren Menge an guten leidenschaftlichen Songs genau das grossartige Vinyl-Doppelalbum geworden ist, welches ich mir schon lange gewünscht habe. Eine Aneinanderreihung von 17 kleinen Kunstwerken, fast frei von Tanz-, Mitsing- und anderen „Hits“. Ein introvertierteres Stück Musik, als einigen übernostalgischen Hörern lieb ist. Eine intensive, lebendige Platte voller Schönheit und Hoffnung. Zweifellos lassen sich damit die Jahre bis zum nächsten Opus gut überstehen. Ich finde, es ist DMs spannendstes, bestes Werk der Neuzeit, vielleicht gar seit Mitte der 80er. Und wieder mal heisst es: Mit ihrer elf Mann starken Besatzung dringen Depeche Mode dahin vor, wo noch nie jemand zuvor war…

 

 

 

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