Rezension - Hourglass von DAVE GAHAN (2007)

von Daniel K. (2007)

…And Now For Something Completely Different (…und jetzt zu was ganz anderem): The Meaning Of Life, The Life Of Brian… ähm… David (dem Sinn des Lebens, des Lebens von… David)!

Ob Dave Gahan den Humor seiner britischen Landsleute „Monty Pythons“ mag? Jedenfalls eignen sich deren Filmtitel hervorragend für eine Kurzrezension von Daves neuer CD „Hourglass“. Also, nochmals die ersten Zeilen lesen und bis zum Album des Monats November .....

Ok, schlechter Scherz. Es gibt mehr zu schreiben über Dave und seine Suche nach dem Heiligen Gral… nein?… Na gut: …nach dem tieferen Sinn des irdischen Lebens.

Dave Gahan hatte sich bis Mitte der 90er Jahre immer weiter von sich selbst entfernt, bis 1995 und 1996 seine Sanduhr zweimal beinahe kaputt ging. Im Jahre 2003 erntete sein Debut „Paper Monsters“ international grosse Anerkennung. Dank der darauffolgenden erfolgreichen Solotournee und seinen ersten vom Publikum mit offenen Armen aufgenommenen Songs für „seine“ Band Depeche Mode (Suffer Well, Nothing’s Impossible und I Want It All) konnte er sich gestärkt neuen Projekten zuwenden.

Mit dem neuen Album musste Gahan nichts mehr beweisen und konnte das neue Abenteuer ohne jeglichen Druck angehen. Auf „Hourglass“ erfindet er sich zwar nicht komplett neu, geht aber eindeutig neue Wege, statt auf der sichereren „Rockschiene“ zu bleiben. Musikalisch wie textlich ist ein Wechsel vom sich geisselnden Rockstar zum tiefer in die Materie tauchenden, elektronisch verkabelten Künstler festzustellen. Die Selbstanklagen und milden Selbstreflektionen des Debuts sind beinahe Vergangenheit. Seine eigene Muse führte ihn näher und näher zurück zu sich selbst. Auf diesem Weg mussten wichtige Fragen geklärt werden, zum Beispiel was er als Ehemann, Familienvater und Musiker wirklich mit seinem Leben anfangen will.

„Hourglass“ ist aber nicht nur eine kleine Lebenshilfe für Dave, sondern in erster Linie eine unterhaltsame Musik-CD. Die neuen Songs haben eine deutliche elektronische Prägung und sind von bemerkenswerter Leichtigkeit und Lässigkeit durchzogen. Musik und Gesang zeigen sich überraschend vielseitig, von feinfühlig bis animalisch wild. Die Texte sind ehrlich und eindeutig, nicht ausweichend oder diffus. „Hourglass“ ist wie eine kribbelnd aufregende Achterbahnfahrt, wie ein paar schwerelose Runden auf dem Riesenrad oder eine schauderliche Kurzreise durch die Geisterbahn. Doch keine Angst. Die neuen Stücke verbreiten keine Rummelplatz-Stimmung. Dafür sind die total zehn Stücke zu experimentell und zu philosophisch.

1/ Saw Something: Ist das nicht die Einleitung zu „Black Celebration“? Nicht ganz! Mückengesumme, spärliche Basstrommeln, ein entspanntes Schlagzeug, brummendes Cellodröhnen und… huch! Ein Gitarrensolo? Aber nur ein kurzes. Daves zunächst scheue Stimme klingt gegen Ende viel zuversichtlicher. Er vertraut darauf, dass oft dann erstaunliche Dinge unerwartet geschehen, wenn man gelassen bleibt und die richtigen Momente abwartet, statt sein Leben krampfhaft in eine gewisse Richtung zu drängen. „Saw something“ entstand bereits nach der letzten DM-Tour und sollte schon immer am Anfang der neuen CD stehen.

2/ Kingdom: Kingdom ist das radiotauglichste Stück. Ein dezenter Glamrock-Stampfer mit diesem Gänsehaut erzeugenden Ton, wie von einem Schwarm wütender Bienen, oder etwa wie in David Bowies „Heroes“. Es gibt eine schönere Welt, und zwar hier bei uns auf der Erde. Manchmal muss man nur seinen Blick auf die Dinge etwas ändern, auch wenn es nicht immer einfach ist.

3/ Deeper And Deeper: Der Rhythmus im Stile von „Dance Hall Days“, einem Hit aus den 80ern, schüttelt den Körper richtig durch. Dave krächzt sich die Dämonen von der Seele: „I’m gonna have you when I want you! I wanna love you, I’m all you love!“ Sumpfiger Elektro-Rock, ein Kampf durch eine gummige zähe Masse. Zitternd erinnert sich sein Mikro noch heute an diese Session: „Dave, dieser Fiesling, hat mir richtig Angst eingejagt! Ich konnte mich doch nicht wehren!“ Eine Hommage an T.Rex, Gary Glitter und Konsorten.

4/ 21 Days: Gottseidank, so lange dauert der Song nicht. Ein moderner Gospelsong, allerdings nicht befreiend sondern voller Angst und Spannung. Hinter jeder Ecke lauert was Schreckliches, aber schliesslich geschieht nicht viel: Der Protagonist bleibt in seinen Aengsten gefangen, der Song in seiner entwicklungslosen geisterhaften Atmosphäre. Uuuuuuuuuuh-yeah! Wir bauen unseren eigenen Turm der Angst und darin leben wir, bis wir uns entscheiden, uns daraus zu befreien.

5/ Miracles: Erinnert an die Titelmelodie der TV-Serie „Twin Peaks“. Seufz! „Ich widerspreche mir regelmässig. Ich glaube nicht an Wunder, aber ich sehe immer wieder Wunder geschehen. Ich habe inzwischen volles Vertrauen in Leben und Liebe, aber nicht in Menschen.“ „I’m just afraid of losing you“ singt er so ohne Kraft und Hoffnung, dass einem Angst und Bange wird. Ein sehr offenes, ehrliches Liebeslied.

6/ Use You: Neben „Deeper and deeper“ eine weitere Abrechnung, vor allem mit „Dave Nummer zwei“, dem spassorientierten Sünder. „Wir haben einander, Du bist mein Bruder, mein Freund, darum brauch und gebrauch ich Dich“. Und wieder diese absolute Leidenschaft, hier verbunden mit einem schleppenden Groove. Die Daves Nummern drei, vier, fünf und sechs treten hier übrigens gemeinsam für ein paar Takte als Dave-Chor auf.

7/ Insoluble: Ein wunderschönes ätherisches Lied von jenseits dieser Welt, einem Ort der Engel, über etwas nicht wirklich Fassbares. Aber Du weißt, irgendwas ist da. „My Angel… you’ve nothing to fear“. Unendlich weit weg und doch hier.

8/ Endless: Ueber die Illusion, dass am Ende des Tunnels etwas ist, das irgendwie alle Probleme wie von selbst lösen wird. Futuristisch, schwerelos, endlos… Es wabert und dröhnt wie pulsierendes Licht, wie ein Raumschiff aus einem alten SciFi-Film. Es stürzt ins Sonnensystem, schwebt vorbei an Neptun, Saturn, Mars, Erde… es wird heisser und heisser… dann Venus, Merkur, das letzte Lebenszeichen und direkt in die Sonne. ZISCHHHH! Dazu Tontupfer wie glitzernde Sterne am Firmament. Schnipp, schnipp, fingerschnipp.

9/ A Little Lie: Diese Referenz an die Achtziger führt uns mit jaulenden Siouxsie and the Banshees-Gitarren an einen himmlischen Ort. Eine bombastische Einleitung und ein ebenso erhebender Refrain, dazu die meditative Strophe als Kontrast. Erinnert an David Sylvians „Gone To Earth“-Phase. Bitte mehr von dieser Mischung aus grossen Gefühlen und seltsamen Soundideen!

10/ Down: Tja, lieber Dave, nicht nur die weltliche Schwerkraft zieht Dich runter, sondern auch Deine Dämonen liegen stets auf der Lauer. Erschöpft aber entspannt trauert er der verlorenen Zeit nicht nach und akzeptiert das Leben im Bewusstsein, dass die Zeit nicht umkehrbar ist. „…and the world keeps turning“ …und die Erde dreht sich weiter… Klänge aus den rauchigen Nebelschwaden seiner Zigarillos.

Eigentlich wollten Dave und seine Mitmusiker Christian Eigner (Drummer bei DM, jetzt aber mehr Keyboarder), und Andrew Phillpott (Programmierer bei DM) nur ein paar Demoaufnahmen machen. Die Grundrisse der Songs flogen dem Trio nur so zu, und so haben sie die in Daves Heimstudio in Manhattan/New York aufgenommene Platte gleich von A bis Z selbst produziert.

Ein bisschen mitgeholfen hat auch ein Kanadier mit Schweizer (Bündner) Wurzeln. Jaron Albertin ist bisher vor allem als Videoclip-Regisseur für Mew oder Maximo Park („Apply Some Pressure“) in Erscheinung getreten. Für Daves „Kingdom“ hat er sich dunkle mit gespenstischen Lichteffekten durchsetzte Szenen in einer Tiefgarage und draussen in der Nacht ausgedacht. Besonders die mal in weiss bis gelb, dann in orange bis grellrot pulsierenden Fensteröffnungen hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Daves Villa „Hourglass“, ein Geisterhaus mit zehn „Kammern des Schreckens“?

Was man auch immer vom „Paper Monsters“-Nachfolger halten mag: Es ist eine mutige, intensive Kur, welcher sich der endgültig wiedererstarkte Dave Gahan unterzogen hat. Lange sah er in seiner eigenen Sanduhr nur den wegrieselnden Sand. Doch ihm ist endlich bewusst geworden, dass man diese Uhr immer wieder umkehren kann. Keine Sorge, Dave: Notfalls findest Du bei Deinem Sommerhäuschen in den Hamptons, 200 km entfernt von Manhattan, genügend Sand für mehrere Leben. Für diese Aengste will er keine Zeit mehr verschwenden. Die Geister, die Du zurückliessest… („The Ghosts You Left Behind“) ;-)