Rezension Playing the Angel (2005)

von Daniel K. (2005)

Depeche Mode ist eine der grossartigsten Bands überhaupt, und gerade an dieser Stelle müsste das eigentlich nicht betont werden. Aber dass Dave Gahan, Martin Gore und Andy Fletcher nach der ganzen Vorgeschichte zum neuen Album – angefangen beim oft kritisierten Vorgänger „Exciter“, dann mit den Soloaktivitäten und den daraus entstandenen Spannungen und schliesslich mit der aussergewöhnlichen Produzentenwahl – gleich auf diese Weise ins Rampenlicht zurückkehren, war nicht unbedingt zu erwarten. Schliesslich werden all diese Umstände dazu beigetragen haben, dass „Playing the Angel“ in der nun vorliegenden Form erst möglich wurde.

Wer die Single „Precious“ schon gehört hat, wird von Depeche Mode wie so oft in den letzten Jahren in die Irre geführt. „Precious“ ist wunderbare, aber doch eher simple Popmusik, die etwas an ihre erfolgreichen „Violator“-Zeiten (auch schon 15 Jahre her) erinnert. Die restlichen zehn Songs des elften Albums sind kraftvoller und düsterer ausgefallen, weshalb es eines ihrer dynamischsten und ausdrucksstärksten Werke geworden ist.

Neugierig greif ich nach der Silberscheibe; ab in den Player damit. Aussergewöhnliches Cover. Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Nette Idee mit den Federn, gewöhnungsbedürftig, doch originell. Wieder ist Anton Corbijn fürs Artwork zuständig. Ich wollte mich ja der Musik widmen, also „play“… Ein höllischer Lärm erschreckt mich, ein sirenenartiges Röhren! Gerät defekt? Fehlpressung? Weder noch. Es ist nur „A Pain that I’m used to“. Nun, eins nach dem Anderen:

1 / A Pain That I’m Used To: Ein vielversprechender, knackiger Einstieg. „A Pain…“ baut nach dem aufrüttelnden Start mit ein paar Gitarrenzupfern schleichend auf. Dann der druckvolle Refrain und der brachiale Uebergang in Teil zwei. Ein mehr als überzeugender und eingängiger Einstieg ins neue „DM-Hörabenteuer“.

2 / John The Revelator: Das zu Beginn wirre Elektronik-Gepiepse geht über in eine rockige Nummer mit Daves souligem Gesang. Der vorwärtspeitschende Rhythmus und die verspielten Zwischenteile machen „John The Revelator“ zu einem besonderen Rocksong. Martin unterstützt Dave stimmkräftig.

3 / Suffer Well: Der Energiepegel bleibt hoch. „Suffer Well“ ist Daves erste Komposition auf einem DM-Album. Prägend sind die markante Bassgitarre und der atmosphärische Refrain, wieder mit Martins Unterstützung. Trotz des Titels („leide gut“?) stellt sich ein befreiendes Gefühl ein, wie beim fliegen.

4 / The Sinner In Me: Schleppend und sehr elektronisch geht’s voran. Die Strophe ist etwas monoton, dann öffnet sich der Song wie eine wundervolle Blüte. Stakkatoartige Störgeräusche unterbrechen die Musik für einige Momente, bevor „Der Sünder in mir“ wieder den gewohnten Gang, allerdings mit Industrial-Einlagen, findet.

5 / Precious: Ein lieblicher, fast schon unspektakulärer Hit. Sehr harmonisch und das deutlich kommerziellste Stück. Akustisch dominieren Martins Schrammelgitarre und helle Klangfarben. Es ist jedoch das Synthklavier, welches den Charakter der Vorab-Single am stärksten prägt.

6 / Macro: Das erste Solo von Martin. Ein eigentlich sanftes Liedchen, dann aber kommt grossartige Surround-Sound-Dramatik auf. Vor dem bedächtigen Ausklang mit Gitarre knallt es noch einige Male kräftig. Martins aktiver Gesang springt den Hörer fast an.

7 / I Want It All: Der ruhende Pol des Albums. Eine sechsminütige pulsierende Ballade, von Dave geschrieben und gesungen. Auch hier stechen die vielen interessanten Töne heraus. Nach etwas mehr als der Hälfte wird’s etwas experimenteller und abwechslungsreicher. Einfach schön!

8 / Nothing’s Impossible: Eine weitere Komposition von Dave. Vielleicht die grösste Ueberraschung auf „Playing the Angel“, von Dave mit leicht veränderter und emotionsloser Stimme vorgetragen. Eine erstarrte Melodie, Endzeit-Stimmung, lähmende Kälte schleicht den Rücken runter. Inklusive kurzzeitiger Hör-Irritation, aber die Maschinerie dreht weiter, nichts fällt auseinander ;-).

9 / Introspectre: Kurzes sphärisches Zwischenspiel, erinnert an „A Broken Frame“-Zeiten. Luft holen fürs Finale.

10 / Damaged People: Martin zum Zweiten. Es dominieren dumpfe Glockenspiel-Klänge. Zeitlupenhafte Bilder erscheinen vor dem inneren Auge. Ein Lied aus einer anderen Welt mit traumhaftem Refrain. Und wieder mit einer grossen Portion Dramatik, die Martins Stimme so gut bekommt.

11/ Lillian: Ein fast schon fröhlicher Uptempo-Song. Dave singt lässig-locker, und dieser Text handelt – wie könnte es anders sein – von „Pain and Misery“. Eine sehr lebendige Melodie, die Tonleiter rauf und runter. Martin ist wieder mehrmals zu hören.

12 / Darkest Star: …könnte man auch „Playing the Angel“ nennen. Eine Art alptraumhaftes Klagelied. Die zu Beginn bedrückende Atmosphäre schlägt aprupt um, als die Turmuhr zwölf schlägt. Gespenstische Töne und Martins bedrohliches „ooooooooohh“ verstärken die unheimliche Stimmung. „Darkest Star“ bildet den grossartigen Abschluss dieser kurzweiligen Platte.

Es ist beeindruckend, wie Depeche Mode und Produzent Ben Hillier eine CD hervorzaubern, ohne dass man ans Wort „Füllmaterial“ denken muss. War da nicht immer mindestens ein Track, den man eigentlich nicht so toll fand? Natürlich, die Geschmäcker sind verschieden, und es gibt immer unzufriedene Stimmen. Aber man darf guten Gewissens zugeben, dass Depeche Mode wieder voll da sind. Im Besonderen gilt das für Dave, der erstmals für die Band komponiert hat: „Suffer Well“ und „Nothing’s Impossible“ gehören zum Besten, was (elektronische) Popmusik im Jahre 2005 bieten kann.

Produzent Ben Hillier dürfte es auch gewesen sein, der DM zurück zu den „warmen“ analogen Synthies geführt hat. Ob er ebenfalls für das erstarkte Selbstbewusstsein der Sänger verantwortlich ist? Es ist nicht zu überhören, dass Martin Dave auf fast jedem Titel begleitet, und das war bisher nur selten der Fall.

„Playing the Angel“ ist ein Hörerlebnis erster Güte: Abwechslung wird gross geschrieben, kein Stück klingt wie das andere. Die Kompositionen sind gut durchdacht, trotzdem nicht kopflastig. Es ist genügend Spontanität da, obwohl sich auch Depeche Mode-Songs einigermassen an gewisse Strukturen zu halten haben.

Die Reise durch DePeCHe MODes dunkles Unterbewusstsein wird für Euch bald beginnen. Und die Chancen stehen gut, dass sie sehr lange dauern könnte...